Mitternachtstorte: Sille 1
Als eingeübte Zwangsneurose legte sich ihre Hand auf die Kippenschachtel, nur um wieder loszulassen. Eigentlich hasste sie Rauchen beim Radfahren. Und trotzdem griff sie vorher immer nach der Schachtel. Bescheuert. Als sie das Rad aus der Tiefgarage nach draußen schob, dachte sie darüber nach, dass sie es immer ihr "Damenrad" nannte und das "Da" dabei möglichst übertrieben und dämlich betonte. "DUamenrad", murmelte sie und als ein vorbeieiernder, alter Mann mit Hund sie darauf komisch ansah, zeigte sie ihm den Mittelfinger.
Ihr müder Kopf ließ die Frühmorgens-Gedanken zum erliegen kommen und Sille schwang sich auf ihr Rad. Der Asphalt, golden im Herbstnassen Sonnenlicht, begrüßte sie ohne Worte. Luft, die für diesen Monat noch viel zu warm war, strich ihr durchs ungewaschene Haar. Etwas Schlaf juckte in einem ihrer Augen, von denen ihre Tante mal gemeint hatte, dass sie sie ja immer so unschön zusammenkneifen würde. Worauf Sille auch ihr den Mittelfinger gezeigt hatte.
Sie trieb über die schlingernden Nebenstraßen ihrem Ziel am Stadtrand entgegen und ließ ihr Rad dabei das Tempo angeben. Oh. Verzeihung. Ihr "DUamenrad".
Auf halber Strecke drifteten Silles Gedanken ab. Unwillkürlich. Unproblematisch. Sie kehrten zurück zu ihrer Expedition auf den Flugplatz. Wie lang was das jetzt her? So vierzehn, fünfzehn Jahre? Unfassbar. Wie alt war Kaspar da? Elf, vielleicht? Kannst du eigentlich auch keinem erzählen, dass sie ihn auf sowas Gefährliches mitgenommen haben. Aber sie selbst war da noch Anfang zwanzig gewesen und hatte noch ein ganz anders Verhältnis zu Risiken damals. Außerdem brauchten sie seine Nase.
Sille lies die Häuserblocks hinter sich und fuhr langsam durch das aufgegebene Industriegebiet, mit seinen Brachflächen, vollgesprühten Wänden und eingeschlagenen Fenstern. Einige Ecken weiter erhob sich bereits ihr Ziel. Ein Berg von einer Bauruine, eine Klippe aus Beton über einem Sandstrand ohne Meer.
Fast als wollte es die letzten verdaddelten Minuten wieder aufwiegen, zog ihr Hirn das Tempo an und bombardierte sie mit Erinnerungen.
Sie, sitzend in dem Auto ohne Nummernschilder, von dem Fachnaum meinte er hätte es "geliehen". Ritmo Cósmico klimpert aus dem Radio.
Kaspar, auf allen vieren durch ein Loch im Zaun kriechend. Die Nase hochgereckt wie ein witterndes Frettchen. "Okay, glaub ich habs ... hier lang."
Fatima, vorsichtig durch den Horizontal-Brunnen kletternd, den Weg für die andern ebnend. Jede Bewegung überlegt. Jeder Schritt in stiller, harter Lebensgefahr.
Ein Haufen bewaffneter Leichen in einem Hangar. Fachnaum der sagt "An Orten wie diesen überlebt noch jede hinkende Ratte besser als ein Krieger."
Sille, im hohen, gelben Gras versteckt, Schlamm beschmiert sich schützend vor Kaspar schiebend. Angespannt, die Luft anhaltend, während etwas Großes tonlos an ihnen vorbeischleicht.
Und dann schließlich das Ende. Sie, alle vier, erschöpft und abgekämpft, aber in einem Stück am Zaun. Ihrem Ziel. Dahinter Gamboschulin, das Land der Toten. Und die Toten kommen. In ihren bunten Röcken und ihren Masken aus Draht und Knöchelchen. Sie singen ihnen ein Lied. Das Lied wonach sie gesucht haben. Das Lied, weswegen sie gekommen sind.
Sille atmete aus. Langsam realisierte sie, dass sie bereits vor dem nie vollendeten Gebäude zum stehen gekommen war. Wehmut. Sie hatte so lange nichts mehr von den drei anderen gehört. Sehnsucht. Wie die Lage wohl bei ihnen war? Sie hatte zumindest Fatimas Telefonnummer und Kaspars letzte Adresse irgendwo rumfliegen. Vielleicht war es Zeit sich mal wieder bei ihnen zu melden.
Langsam stieg sie vom Rad ab und murmelte nochmal, um sich im hier und jetzt zu verankern:
"DUamenrad"
Dann schob sie langsam durch den Eingang, der nie eine Tür gekannt hatte, in das Innere des Gebäubes.