Mitternachtstorte: Sille 3
"Sibille", wiederholte Tanja und riß Sille damit aus ihren Erinnerungen.
Sie war in einer der leeren Hüllen unfertiger Räume im Innern der Bauruine stehen geblieben und brauchte einen Moment, um Tanja im Halbdunkeln zu erkennen. Licht fiel von irgendwo in den Raum und wälzte sich als blendender Streifen zwischen ihnen entlang.
Es war einen Moment zu lang still, während Sille versuchte sich zu erinnern, wie Fachnaum das Wort "Äffung" betonte. Sie wollte den Kopf schütteln, doch schob am Ende nur ihr Kinn ein Stück nach links. Dann schlurfte sie, ihr Rad ... ähm, DUamenrad immer noch an der Hand führend, über den hellen Strich und sagte leise:
"Moin, Tanja."
"Hast heute nen Nachdenklichen, wa?"
Sille hob nur die Schultern, zog gespielt die Mundwinkel nach unten und meinte mit resigniertem Ton:
"Wann hab ich den nicht, hmh? Bock auf ne Kippe?"
Tanja grinste
"Endlich, ich wusste auf dich ist Verlass."
Einen Moment, schien sie abzuwarten, ob Sille ihr die Zigarette auch anzünden würde, doch besann sich dann eines Besseren. Die Kippe im Mundwinkel hängend, kramte Tanja nach ihrem eigenen Feuerzeug und murmelte dabei:
"Sieben Leute warn heute hier. Und alle Nichtraucher. Meine Fresse ist denn keiner heute mehr Punk?"
"Man kann auch Punk sein, ohne zu rauchen, Tanja."
"Man kann auch rauchen, ohne Punk zu sein, Sibille."
Sille musste lächeln. Sie mochte Tanja. Die kleine, aber kräftige Frau mit den halblangen, dunklen Haaren und den braunen Augen strahlte eine besondere Art von Gelassenheit aus. Sie ruhte vollkommen in den schnippischen Kommentaren und Sticheleien, die sie mit ihrer Zigaretten- schweren Stimme zum besten gab. Da war keine böse Absicht dahinter. Kein Wille zu verletzen. Einzig eine diebische Freude an den Reaktionen ihrer Gesprächspartner. Wär Sille noch Anfang zwanzig, hätte sie ohne zu zögern die Kippe angezündet, um Tanja dann auf möglichst ungeschickte Art anzubaggern. Schade drum, aber auch okay, dachte sie.
"Wie lange musst du heute noch?"
"Ungefähr ne Stunde, dann kommt Elias mich ablösen."
"Elias?"
"Der Twink mit den hübschen Augen und der Goth-Attitüde."
Sille lachte, Tanja lächelte.
"Spaß beiseite, der Junge ist ein Goldstück. Es braucht nur noch n bisschen Arbeit, bis er das auch selbst begreift."
"Aha, na dann grüße ihn mal von mir."
Sille schob das Rad beiseite und lehnte es an eine Wand. Dann nickte sie in Richtung eines dunklen Korridors am Ende des Raums und begann ihre Jacke auszuziehen.
"Und wie is er hier wohl heute drauf?"
Tanja wartete einen Moment, bevor sie antwortete, zog vorher noch mit kalkuliertem Timing an der Kippe.
"Enigmatisch ... so wie immer."
Dann begann sie damit, etwas Silbriges aus ihrer Jackentasche hervor zu kramen.
"Er wusste, dass du kommst. Nur bei dir macht er das, Sibille. Allen hört er zu, doch nur bei dir kündigt er an, dass du kommst."
Sille zog nach und nach auch ihre restlichen Klamotten aus und legte sie neben dem Rad ab. Sie antwortete, während sie sich die Socke vom linken Fuß angelte und versuchte dabei möglichst beiläufig zu klingen.
"Vermutlich, weil ich schonmal dahin gegangen bin."
Dahin. Das Wort stand zwischen ihr und Tanja wie Atemluft aus Blei.
Lautlos schritt Tanja neben das Schwarz des Korridor-Eingangs und fragte fast zu leise.
"Wann erzählst du endlich mal davon?"
Inzwischen komplett nackt ging Sille ebenfalls in Richtung des Eingangs, blickte erst ganz zum Schluss in Tanjas Augen und sagte ruhig, aber entschieden:
"Wahrscheinlich nie."
Keine Antwort und keine Reaktion, die Sille hätte deuten können.
"Na komm, lassen wir ihn nicht länger warten."
Tanja nickte langsam und für einen Moment glaubte Sille zu sehen, wie ihr Blick sich an ihre Seite heftete. Möglicherweise dahin, wo der Abdruck war. Doch im Halbdunkeln konnte sie sich nicht sicher sein.
Dann öffnete Tanja wortlos das Fläschchen in ihrer Hand und goss die silbrige, zähe Flüssigkeit vor Silles Füßen auf den Boden. Für einen Moment suppte das Zeug nur vor sich hin, dann begann es plötzlich sich zu bewegen. Verzweigte sich wie ein Pilzgeflecht, verharrte, breitete sich noch etwas aus und verharrte erneut. Bis sich schließlich fast alle Zweige zurückzogen und nur ein einziger, deutlich erkennbar immer weiter in die Dunkelheit kroch.
"Bis später", raunte Tanja.
Sille sagte nichts.
Still ging sie los. Immer der silbernen Schnur folgend.
Auf dem Weg zur Domäne von etwas, das Fachnaum nie als Gott bezeichnen würde. Tanja und ihre Leute dagegen wohlmöglich aber schon.