Mitternachtstorte: Sille 4
Ihre schuhlosen Schritte hatten sanft von den Betongängen zurückgehallt. Das silbrige Band war ihr voran gekrochen, durch den Irrgarten unfertiger Gänge.
Sie sah es um die letzte Ecke biegen und hörte das leise Knistern schon bevor sie selbst dort ankam. An dem weitläufigen Innenhof, im Zentrum der riesigen Bauruine.
Dunkles Grün sprach durch einen Wind, der hier nicht wehen konnte. Brennnesseln. Sie waren überall. Ein niedriges, sanft verschlungenes Dickicht. Es waren seine Pflanzen. Auf seltsame Weise mit ihm verbunden. Wie zwei Worte, die sich reimten.
Und Sille war nun abermals hergekommen. Zu ihm. Dem geringeren Trickser. Dem mürrischen Hinterhalt.
Voran, Sibille.
Ihr Fuß ließ den Betonboden hinter sich und entdeckte feuchte, dunkle Erde. Ein bisschen Moos. Sie zögerte nicht und schritt mit gleichbleibender Entschlossenheit in das Brennnesselfeld.
Tausende und nochmals tausende kleine Nadeln richteten sich gegen sie. Mit jedem Schritt. Die Spitzen der Brennhaare, durch eingelagerte Kieselsäure spröde, zerbrachen bei der kleinsten Berührung und verwandelten sich in Kanülen. Druck spritzte den Inhalt in ihre Hautschichten. Ameisensäure, Serotonin, Histamin, Acetylcholin und Natriumformiat.
Es brannte wie Scheiße.
Ein Mensch kann sich tausendmal von einer Brennnessel stechen lassen. Doch dran gewöhnen kann er sich trotzdem nicht.
Sille verzog das Gesicht, ging dennoch weiter bis zur Mitte des Feldes und richtete den Blick nach oben. Der späte Morgenhimmel füllte das Viereck über dem Innenhof aus, doch die Sonne stand noch nicht hoch genug, um bis zu ihr runterzukriechen.
Ihre Beine waren durch die roten Quaddeln, die die Nesseln auf ihre Haut zu zeichnen begonnen hatten, zu einer Mondlandschaft geworden.
Ein halbunterdrücktes, genervtes Zischen entwich ihr. Doch niemand antwortete.
Dann breitete Sille ihre Arme aus, schloß ihre Augen und ließ sich rückwerts in das Dickicht fallen.