Ossulgarnen

Randgeschichten: Teenager wird unsterblich

Lyon Aótt sitzt auf einem Pfeiler aus Ziegelsteinen am Ende eines Gartenzauns. Er ist damals 17 Jahre alt und auf diese Art und Weise unzufrieden, wie man es sich nur als Teenager erlaubt und es dann als Erwachsener mit aller Macht verdrängt. Lyon ist kaputt, denn er musste einiges vorbereiten heute, doch sein Gesicht verrät nichts davon. Selbstbeherrschung ist etwas, was man bei uns den jungen Leuten gerne abspricht, dabei sind es eigentlich oft die Erwachsenen, die sich nicht beherrschen können. Vielleicht sprechen wir es ja deshalb den Teenies ab, hmh? Um von uns selbst abzulenken.

Wer weiß. Für einen Moment fühlt er sich über und würde einfach nur gerne in der Herbstsonne sitzen und für den restlichen Tag an nichts mehr denken. Und ja, für nen kurzen Moment driftet er ab. Seine Augen klettern an den Häusern hoch und gleiten durchs endlose Blau. Am Himmel sieht er den gigantischen Satelliten, der nur dadurch nicht auf die Stadt runterfällt und sie zertrümmert, weil in seinem Innern der Viele-Arme-Gott sitzt und das Ding rund um die Uhr programmiert, um es in der Luft zu halten. Als feiner, salziger Nieselregen tropft sein Schweiß herunter auf die Innenstadt von Baiterjag. Und alle nehmen es hin. Denken er wird ewig halten. Lyon weiß es besser. Er weiß, dass der Viele-Arme-Gott müde wird. Deswegen wartet er jetzt hier.

Eine Mücke summt an seinem Ohr vorbei, setzt sich auf seinen Arm, sticht zu und saugt. Er lässt es geschehen. Ein Teil von ihm verlässt in Tropfenform seinen Körper und gleitet mit dem Tier in die Ferne. Hin zu den fiebrigen Tümpeln und Gräben am Stadtrand, wo eine Gottheit in der Erde lebt, die alle nur Mutter nennen. Unbeachtet brütet sie dort eine feingliedrige Armee aus. Einen Mückensturm, bereit zum Ausbrechen. Möglich gemacht durch die außerordentliche Hitze der letzten Jahrzehnte, die ihren Ursprung in den Fabriken und Schloten der hohen Industrie hat. Sie wird kommen, Lyon weiß es. Wenn der Satellit fällt, wird Mutter kommen. Wird die Trümmer von Baiterjag überschwärmen und die Knochen der verstorbenen in ihre liebevolle, lehmige Umarmung schließen.

Die Dinge verändern sich, es ist nunmehr eine Frage der Zeit. Er seufzt. Eine einzelne Wolcke nähert sich von Süden her dem Satellit. Schwimmt, treibt langsam über das blaue Meer aus Ozon. Einmal schließt er die Augen und denkt an Weite. Lässt seine Gedanken nach Norden klettern, über das Süßwasser-Atoll und den langen Fluss bis hin zum zerdrückten Meer. In die Moloch-Städte, von wo aus der Große Apparat verwaltet. Herrscht. Ja wahrscheinlich könnte man auch sagen, er herrscht. Ein System, das sich selbst erhalten will, aber langsam an den Problemen scheitert, die es selber erzeugt. Wie ungemein menschlich denkt Lyon und ich weiß nicht, ob er recht hat. Er denkt an den Ursprung dieses Systems an den irrwitzigen Mythos, schlichtes Glück. An eine jetzt namenlose Fischerin, der beim Größten Fang aller Zeiten ein Gott ins Netz ging. Der Asselspinnen-Apoll. Manche sagen er war schön, andere sagen er war ein Monster. Alle sagen, er erfüllte ihr einen Wunsch.

Und sie wünschte sich Macht. Wer kann es ihr verübeln. Lyon hätte es sich sicher auch gewünscht. So ehrlich is er wohl. Macht verführt, wie nichts auf der Welt. Und so herrschte die Fischerin, wurde eine Königin und eine Verwalterin. Und auf sie folgten weitere Verwalter und um diese scharrten sich noch mehr Verwalter und so wuchs der Große Apparat. Und nun verwaltet er. Fast wie von selbst, so sagen manche. Unfähig sich selbst zu verändern, so sagt Lyon. Anpassungen ausweichend zum Erhalt des Status quo. Die Katastrophen ignorierend, die am Rand der Wahrnehmung dräuen. Doch nicht alles ist hoffnungslos. Das ist es ja nie. Keine Macht ist total. Und so sind auch im Großen Apparat einige Schlupflöcher versteckt. Vom Asselspinnen-Apoll angelegt und von wenigen entdeckt. Unter der Hand weitergeflüstert bis hin zu Leuten, wie Lyon Aótt.

Glücklicherweise, denkt er sich. Seine Gedanken kehren zu ihm zurück. Keinen Moment zu spät, denn als sein Blick sich wieder scharf stellt, sieht er dass die Wolke den Satelliten erreicht hat. Und mehr noch. Er sieht etwas aus dem riesigen Metall-Zylinder herauskommen. Lange, bleiche Arme. Zwei, Vier, Zehn, immer mehr. Sie strecken sich nach den Wölbungen der Wolke, erreichen sie und packen zu. Dann spannen sich die Gliedmaßen, ziehen sich zusammen, wie eine vielfingrige Hand, die sich schließt. Und ein großer Körper hieft sich aus dem Satelliten, gefolgt von einem Schwall salzigen Wassers, das sich nach unten ergießt. Der Viele-Arme-Gott geht.

Es braucht einen Moment, bis die Stadt begreift, bis genug Leute in den Himmel geblickt und verstanden haben, was jetzt geschieht. Dann beginnt Baiterjag zu schreien. Eine Kakophonie aus den Rufen verstörter und unmöglich überraschter Leute erhebt sich aus der Innenstadt und ebbt über alle Viertel hinweg, als der Satellit beginnt zu fallen. Nur Sekunden. Augenblicke, in denen keiner blinzelt.

Für einen Moment glaubt Lyon, dass er es nicht packt. Dass all die Vorbereitungen umsonst waren und er hier mit all den andern sterben wird. Doch er hat sich gut vorbereitet, hat alles hundertfach geübt und so bewegt sich sein Mund wie ein Reflex, formt ein Wort, dass keine Stimme ausprechen kann, dass aber mit all den Zeichen resoniert, die er sich eine Stunde zuvor in die Haut geritzt hat. Ein Summen drückt aus seinem Schädel, übertönt die Schreie, überschlägt sich und kehrt zurück. Und siehe da, die Zeit steht still. Die Welt um ihn herum ist in seltsame, verzerrte Farben getaucht. Alles flackert und rauscht. Der Satellit hängt nicht mal mehr einen Kilometer über der Stadt in einem grünlich strudelnden Himmel.

Und wenige Meter entfernt von Lyon, am Ende der Straße, steht der Tod. Lyon betrachtet ihn, während er langsam näher kommt. Dieser Tod krabbelt auf allen Vieren, statt Füßen hat er ein weiteres Paar Hände. Er trägt ein Takelhemd und sein Haupt ist ein Sturm unzähliger, wunderschöner Münder. Lyon ist überrascht, fast schon berührt wie schön er diesen gotesken Anblick findet. Als der Tod ihn erreicht, geht er neben dem Ziegelpfeiler in die Hocke. Er ist groß, sehr groß, überragt Lyon auch im Hocken um einen Kopf. Dann beginnt der Tod zu sprechen. Eine Stimme zu süß für die Wirklichkeit. Aus unzähligen Mündern tausendfach hinausgesprochen.

Lyons Blick entgleitet in die flackernd grüne Welt, als sich seine Augen mit Tränen füllen. Sie klingt wie viele Stimmen, bekannte und unbekannte. Da ist die Stimme seiner Mutter, wie sie immer leise sprach, wenn sie ihn ins Bett brachte. Da ist die Stimme des unbekannten Radiosprechers, die immer morgens durch die Fabrikhalle wehte und da ist die Stimme von Dagrett dem ehemaligen Nachbarsjungen und Lyons erste große Liebe. Und doch hat diese Stimme, diese Einheit aus vielem, etwas ganz eigenes. Erstmals kommen Lyon Zweifel auf, ob er seinem Tod widerstehen kann. Ob er den Willen aufbringen kann nicht mit diesem wunderbar grotesken Gestalt mitzugehen und im Feuer des aufschlagenden Satelliten zu verenden.

Doch der Wille ist da, nicht stark, vehement oder fordernd, sondern fein. Wie Fäden, unzählige Fäden, die seine fortstolpernde Seele sanft zurück in sein Bewusstsein ziehen. Und als der Tod ihn dann fragt, warum er das besondere Wort gesprochen hat und ob er nicht viel lieber mit ihm gehen will, dorthin, wo alle Lasten abfallen, wo alles hingeht und widerkehrt, da blickt Lyon Aótt dem Tod, seinem Tod, in das wunderschön unmögliche Gesicht und sagt nein. Er greift in seine Jacke und holt die Bilder hervor. Vier Fotographien. Sie zeigen ihn selber, nackt, die rituellen Zeichen in die Haut geritzt. Von Vorne, von hinten und eins von jeder Seite. Lyon zeigt sie seinem Tod und dann hält er sie ihm hin.

Der Tod streckt seine Linke aus und berührt die Fotos. Bevor der Junge aber loslässt, spricht das groteske Wesen nocheinmal mit einer Melancholie in den Stimmen, die Lyon so nie wieder in seinem langen, langen Leben hören wird.

"Wenn ich dich jetzt hier zurück lasse, Lyon, dann werde ich für lange Zeit nicht wieder zu dir kommen können, selbst wenn du es dir mal sehnlichst wünschen solltest. Mach dir das bitte bewusst."

"Aber eines Tages wirst du zurückkehren, oder?"

Und der Tod nickt.

"Dann ist es ok für mich."

Lyon streicht mit seinem Zeigefinger über die Fingerspitzen seines Gegenübers, dann lässt er die Bilder los und der Tod steckt sie ein. Die Worte, die jetzt aus den wunderschönen Mündern kommen, kann er nicht mehr verstehen, auch wenn sie ohrenbetäubend laut sind. Eine Erklärung, abgegeben in Silben, die nicht für unser Verständnis gemacht sind. Wie eine Flut steigen sie, steigen und steigen. Füllen alles aus. Das Dröhnen kommt zurück in Lyons Schädel und er muss die Augen schließen. Seine Haut brennt wie Feuer, seine Kochen brummen wie von Wachstumsschmerzen und seine Eingeweide fühlen sich, als würde er fallen.

Dann ist alles mit einem mal still. Er wartet einen Augenblick, holt tief Luft und öffnet die Augen. Das erste Geräusch, das er in seinem neuen Leben hört, ist der donnernde Aufschlag des Satelliten. Die Druckwelle erreicht ihn nichtmal eine Sekunde danach.

Lange Zeit verweilt Lyon an dem Platz wo er aufgeschlagen ist. Erst liegend, später dann setzt er sich auf. Wie lange genau weiß er nicht. Die ersten Tage nach dem Einschlag ist der Krater, der einst Baiterjag war, von einer gewaltigen Staubwolke bedeckt. Sie macht es unmöglich abzuschätzen, ob die Sonne scheint oder nicht. Lyon wartet, atmet ein und aus, ein und aus. Eine Luft, die kein Mensch atmen könnte. Und tatsächlich, irgendwann beginnt sich der Staub zu legen. Zumindest etwas. Und nach einer Weile kann er eine Veränderung im grau-schwarzen Wolkenmeer ausmachen. Mal ist es heller, dann wieder dunkler. Hell, dunkel. Tag und Nacht. Sein Gefühl für Zeit kehrt zurück. Vier weitere Tage wartet er noch. Sitzt einfach da und schaut in das Nichts. Er ist nackt. Die Explosion hat die Kleidung von seinem Körper heruntergebrannt.

Als Lyon schließlich ungefähr ausmachen kann, wo in etwa das Zentrum des Kraters ist, steht er auf und beginnt in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Irgendwann verändert sich die Struktur des Bodens, wird von dem glattgeschmolzenen Kratergrund zu Steinen, dann zu Trümmern, bis er schließlich auf den umgestürzten Ruinen von Häusern läuft. Und er geht weiter, weiter, bis zum Rand der Stadt. Das Summen hört er schon von weitem in der gespenstischen Stille. Schwärme von Mücken empfangen ihn, als er aus der Rauchwolke tritt. Sie sind überall, Mutters Kinder umarmen die tote Stadt. Sie meiden ihn, berühren seine Haut zwar, aber stechen nicht zu. Er geht weiter, bleibt nicht mal stehen, schaut nicht, ob irgendwer noch am Leben ist.

In einem von Mutters Tümpeln wäscht er sich die dicke Schicht aus Asche vom Körper. Die eingeritzten Zeichen sind noch auf seiner Haut. Von einem grünlich schimmernden Schorf bedeckt, der nie verschwinden wird. Es kümmert ihn nicht. Weiter geht Lyon Aótt, letzter Überlebender von Baiterjag. Lässt die Tümpel hinter sich zurück, den Rand der Stadt, klettert die Hänge hoch, die zum trockenen Dickicht führen.

Auf einer Anhöhe bleibt er nochmal stehen, dreht sich um und beginnt zu weinen. Der Anblick dieser Stadt, dieser vollkommen zerstörten Stadt, er wird ihn nie vergessen. Und doch muss er weitergehen, er verschließt sein Herz, nabelt sich ab, klettert über den Hang. Und geht weiter. In ein Leben, das nunmehr kein Ende mehr kennt.

Und so wurde Lyon Aótt unsterblich.

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