Randgeschichten: Zur Lage auf Hawarezzede
Als der Wandermond Hawarezzede leer und fast unbewohnt in das Dallinger Haff eintauchte, wo die Sternenfahrenden unablässig miteinander stritten, da war es ein Satellit des Kalten Hauses, der als erstes in seine Umlaufbahn eintrat.
In seinem Inneren schwammen, eingeschlossen in gewaltigen Schläuchen voll orangefarbender Untiefen, die Jüngeren. Umsorgt von Heerscharen, aus Anemonen gezogener, Menschenklone. Und als dann die Kundschafter von der Oberfläche des Trabanten zurückkehrten und von den gewaltigen, verlassenen Städten berichteten, die von Gras und Bäumen überwuchert oder von Wüstensand verschlungen wurden, da fassten die Jüngeren einen Beschluss. Sie entsandten ihre androgynen Anemonen-Menschen auf den Wandermond, um die schlummernden Städte wieder zu erwecken. Und weil in der Vorstellung des Kalten Hauses die Grundlage der Welt tief mit Musik verbunden ist, dauerte es nicht lange, bis laufende Glockentürme, der Halbton-Klang der Sumpfzitter und himalayische Gesänge durch die Ruinen schwirrten.
Ein Ruf, auf den eine Antwort folgte. Die schlummernden Städte reagierten. Sie gaben Resonanz. Allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt. Das Weck-Lied musste weitergedichtet werden, doch man konnte sich nicht darauf einigen wie. Uneinigkeit führte zu Dissonanz. Die musizierenden Klone stritten sich auf der Oberfläche und die Jüngeren konnten, gefangen in ihrem Satelliten, nichts dagegen tun.
Und schließlich tauchten die Nonnelschock auf. Über das gelbe Feuer Asnefenns stürzten sie durch fremde Räume und hängten sich an den Wandermond. Schwebten als Geister in der Aurora über einem seiner Kontinente. Bis sie sich, aus den Überresten kaputter Maschinen, Körper aus Fleisch und Kupfer bauten. Sie verdrängten das Kalte Haus aus einem stadtgroßen Flughafen und begannen von dort aus die Eroberung weiterer Landstriche. Im Gegensatz zu den Kindern des Satelliten setzten die Nonnelschock auf Licht statt Musik. Sie versuchten die Städte mit chromatischen Signalfeuern, Phosphor-tänzerischen Kerzen und fluoreszierenden Nebeln wieder zu erwecken.
Überrascht von der Invasion und uneins durch ihre vorangegangenen Streitereien, wichen die Sänger erst weit zurück. Bis sich aus dem Chaos drei unterschiedliche Chöre formierten. Jeder von ihnen geeint durch eine eigene Vorstellung des Weck-Liedes, begannen sie sich sowohl gegen die Nonnelschock, als auch gegeneinander zu behaupten. So folgte ein chaotischer Konflikt zwischen Leuchten und Lauten, zwischen Fackeln und Flöten.
Doch der Sternenfahrenden gibt es viele und vielseitig ist ihre Gestalt. Und es verwundert daher auch nicht, dass die Nonnelschock und das Kaltes Haus nicht die einzigen blieben, die sich in den Streit um die schlummernden Städte von Hawarezzede warfen.
Bald tauchte im Südwesten ein Bündnis der Zementiker auf. Mit ihnen schritten die Beckenbewohner, Seetang-artige Wesen mit drei Beinen und drei Armen. Gemeinsam deuteten sie im neuen Wachstum die Chance den Wandermond wiederzuerwecken. Wie ein Netz aus Korallenbänken begann sich nun, unter ihrem hegenden Einfluss, eine Vielzahl von exotischen Gebäuden in den Ruinen auszubreiten. Gezogen aus einem lebenden Beton und unermüdlich wachsend.
Und auch die Kratatoll ließen nicht lange auf sich warten. Auf ihren interstellaren Schlupfwespen folgten sie den Spuren im Fahrwasser des Kalten Hauses, so wie sie es immer tun. Ab dem Moment ihre Ankunft verbreiteten sie Unruhe und Chaos bei den Chören. Saugten sich an ihren Tönen satt, um an Masse zu gewinnen. Und schließlich, als einer ihrer transparenten Sternenträger mit einem der Glockentürme verschmolz und dieser begann das Anti-Lied zu verbreiten, waren auch die Kratatoll fest auf Hawarezzede verankert.
Zu guter Letzt traten auch die Jallien auf den Plan. Eine bunte Truppe drahtiger Randalierer, deren Körpern symbiotische Warane entspringen. Irgendwo im südlichen Regenwald richteten sie ihr Hauptquartier in einer verlorenen Kathedrale von absurd riesigen Ausmaßen ein. Von dort aus machten sie sich in Rudeln auf in die Städte, stets in Begleitung eines sich windenden Grasteppichs, der denkt wie ein Computer und rechnet wie tausend Maschinen. Für die Jallien lag die Wahrheit über das Erwachen des Mondes in der Farbe. Und so zogen sie dahin. Pflasterten jede Wand mit Graffitis, eines schriller als das andere.
Ja, und nun?
Nun tobt der Konflikt aus Hawarezzede weiter, unverändert.
Oh? Nein, Nein. Kein gewaltsamer Konflikt, wie wir ihn kennen. Klar kommt es bei einigen Sabotage-Aktionen mal zu gewalttätigen Ausschreitungen, doch sowas wie Krieg haben die Sternenfahrenden lange vorher schon hinter sich gelassen.
Nein, auf dem Wandermond tobt ein ganz anderer Konflikt. Ein Konflikt zwischen Liedern und Stille, zwischen blendenden Laternen und sachtem Laubschatten, zwischen nacktem Beton und noch feuchter Sprühfarbe. Und während die Grenzen zwischen den Fraktionen immer mehr verschwimmen und die einst leeren Straßen fortlaufend ihr Gesicht verändern, sind, ohne dass ihre Besatzer es bemerkt haben, die uralten Städte längst wieder erwacht. Lebendig und voll von den unterschiedlichsten Gestalten, die jeden Tag aufs neue ihren Platz in der Gesellschaft des Wandermondes finden.